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Die psychotischen Spiele in der Familie

Die AutorInnen um Mara Selvini Palazzoli beschreiben in ihrem Buch „Die psychotischen Spiele in der Familie, Klett-Cotta 1992“ den Weg von der Entdeckung und konkreten Anwendung der paradoxen Intervention hin zu einer systemischen Therapieform, die letztlich die paradoxe Intervention hinter sich lässt, und die relationalen Wurzeln der „psychotischen Spiele“, so bezeichnet das Autorenteam bestimmte Arten der Kommunikation und des Verhaltens, innerhalb von Familien aufdeckt.

Die AutorInnen bezeichnen dies auch als die zentrale Frage, die sie in ihrem Forschungs- und Therapieinteresse geleitet hat: Wie hängt die Störung der Eltern mit der Störung des Kindes zusammen? Diese Frage ist für das Autorenteam der sogenannte Ariadnefaden, der es seit der Veröffentlichung von „Paradoxon und Gegenparadoxon“1 1975 bis zur Veröffentlichung dieses Buches 1988 leitete. Das Herausarbeiten einer sozialen Ätiologie der Psychose ist das Grundanliegen der AutorInnen. Das heißt, die AutorInnen versuchen jene zwischenmenschlichen Prozesse zu rekonstruieren, die in die Psychose führen. Das Buch reflektiert auf die Erfahrung mit 290 PatientInnen, die zwischen 1979 und 1987 vom Mailänderteam behandelt worden sind. Das mittlere Alter der PatientInnen lag ca. bei 15 Jahren bei Ausbruch des Symptoms. Folgende Krankheiten wurden behandelt: Anorexia Nervosa, Bulimia Nervosa, Schizophrenie, Major Depression und Autistische Störungen.

Ambivalente Erfahrungen mit der pardoxen Intervention
Unter Paradoxon oder paradoxe Intervention verstehen die AutorInnen „bestimmte Schachzüge und Taktiken, die dem Anschein nach den Zielen der Therapie zuwiderlaufen, in Wirklichkeit aber die Therapie vorantreiben“.2 Es handelt sich hierbei beispielsweise um die explizite Verschreibung des Symptoms, die positive Bewertung desselben, das Gutheißen desselben oder die Besorgnis darüber, dass es zu früh verschwinden könnte.

Das Autorenteam hat die paradoxe Intervention aufgrund der Schriften zu Kommunikation und System vom Watzlawick und Bateson entwickelt. Mit Hilfe der paradoxen Intervention konnte das damalige Team spektakuläre Erfolge bei der Heilung von schwersten psychotischen Störungen verbuchen. Diesen Erfolgen folgten aber die Erfahrungen, dass manche Verbesserungen nur kurz anhielten und was für das Autorenteam am Bedeutsamsten war, die Praxis der paradoxen Intervention konnte die konkreten pathologischen Familiensituationen nicht erklären. Manche VertreterInnen der damaligen systemischen Therapieform lehnten die Suche nach Erklärungshypothesen für die psychotischen Pathologien sogar explizit ab, wie die Palo-Alto-Schule. Ein weiteres Problem war für das Mailänderteam die Willkürlichkeit, mit der das Paradoxon eingesetzt wurde, ohne die konkreten Umstände der Familie wirklich zu kennen.

Im Laufe der Zeit sammelten die AutorInnen eine Reihe von Situationen, in denen die paradoxe Intervention nicht wirkte. So machten sie die Erfahrung, dass die positive Symptomdeutung nur dann wirkte, wenn die Deutung wirklich auf einen Teil der Familie zutraf. Sprachen die TherapeutInnen beispielsweise davon, dass die psychotischen Zustände des Kindes ja bewirken, dass das Elternpaar zusammen bleibt, so entfaltete diese Interventionsform nur dann seine Wirkung, wenn die Eltern das auch so erlebten.

Weiters entdeckte das Team, dass die paradoxe Intervention von der spezifischen Anpassung an die konkreten Familienverhältnisse abhing. Eine zu sehr verallgemeinerte Form der Intervention zeigte keine Wirkung. So entstand das Problem, dass in der paradoxen Deutung zwar oft der Nutzen für ein Familienmitglied zur Sprache gebracht wurde, aber die anderen Teile der Familie konnten mit dieser Deutung nur wenig anfangen.

Die AutorInnen machten auch die Erfahrung, dass das Paradoxon nur dann seine Wirkung zeigte, wenn der Wunsch nach Hilfe sehr deutlich war.

„Wie das Einschlagen einer Bombe“
Die Paradoxe Intervention wurde in der ersten Sitzung „verabreicht“ wie das Einschlagen einer Bombe. Nach der Bekanntgabe der Deutung war mit den TherapeutInnen kein Gespräch mehr möglich. Wenn das Paradoxon seine Wirkung nicht zeigte, gestalteten sich die folgenden Sitzungen als schwierig, da kein gesicherter Ablauf mehr vorhanden war und so wurden die Sitzungen zu Varianten der ersten Sitzungen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Wirkung der Paradoxen Intervention, so wie sie von der Mailänder Schule angewandt wurde, erstens auf der genauen Analyse der spezifischen familiären Bedingungen und zweitens auf der provokativen Offenlegung der verdeckten Absichten beruhte.3

Die Zufälligkeit und Unvorhersehbarkeit der Wirkungen und dass es durch die Verwendung der paradoxen Intervention keinen wirklichen Zugewinn an Wissen über die Entstehung von Psychosen gab, führten dazu, dass sich Palazzoli und Prata, nach dem Zerfall des Teams von der Verwendung des Paradoxons letztlich abwandten.

Der Fall Marsi und die Entdeckung der unveränderlichen Verschreibung.
Durch den Fall Marsi machten Palazzoli und Prata die Entdeckung der unveränderlichen Verschreibung. Die Familie Marsi kam in Therapie, weil eine der Töchter an Magersucht litt. Trotz intensiver Sitzungen gelang es dem Autorenteam nicht, die Spiele der Familie zu durchschauen. Unter anderem beobachteten die TherapeutInnen, dass sich immer wieder die Töchter in den Therapiegesprächen in die Angelegenheiten der Eltern einmischten. Aufgrund dieser Erfahrung entschloss sich das Team, die Kinder von der Therapie auszuschließen und alleine mit den Eltern weiterzuarbeiten. „Den Töchtern sollte auf nonverbale Weise zu verstehen gegeben werden, dass sie sich aus den Angelegenheiten der Eltern herauszuhalten hatten.“4

Die Verschreibung lautete: „Über alles, was in den Sitzungen gesprochen wird, müssen Sie absolutes Stillschweigen bewahren. Sollten Ihre Töchter Fragen stellen, so antworten Sie, die Therapeutin habe verlangt, dass alles, worüber gesprochen wird, zwischen Ihnen und ihr bleibt. Während der Zeit bis zur nächsten Sitzung gehen Sie einige Male vor dem Abendessen ohne Ankündigung aus dem Haus. Sie sagen vorher nichts, sondern lassen nur einen Zettel zurück, auf dem steht: Wir sind heute Abend nicht da. Suchen Sie Treffpunkte aus, wo Sie ziemlich sicher gehen können, dass Sie niemand kennt. Wenn Sie dann bei Ihrer Rückkehr von den Töchtern gefragt werden, wo um alles in der Welt Sie geblieben sind, so lächeln Sie nur und sagen: Das geht nur uns zwei etwas an. Außerdem möchten wir, dass sich jeder von Ihnen – in einem Heft, das gut versteckt werden muss – darüber Notizen macht, wie jede der Töchter auf Ihr seltsames Verhalten reagiert. Bei unserem nächsten Treffen, zu dem wieder nur Sie beide kommen werden, lesen Sie uns dann vor, was Sie aufgeschrieben haben.“5

Die konkrete Durchführung der Verschreibung
Die aufgetragene Verschreibung zeigte eine verblüffende Wirkung. Nach einem Monat, die Eltern befolgten die Verschreibung sehr gewissenhaft, zeigte sich eine wesentliche Verbesserung des symptomatischen Verhaltens der magersüchtigen Tochter und das Familienklima insgesamt hatte sich stark verbessert. Das Autorenteam beschloss nun, diese zufällig gefundene Verschreibung zu einem fixen Bestandteil der Therapie mit psychotischen Patienten zu machen und entwickelte sie in folgender Weise.

Die Vorbereitung und Verschreibung selbst gliedert sich in folgende Schritte:
Telefongespräch: Die Therapeutin sammelt bei der Anmeldung möglichst viele Informationen über die Familie. Welche Personen im gemeinsamen Haushalt leben und welche Familienmitglieder sonst noch für die Kernfamilie von Bedeutung sind, sind die Fragerichtungen, die eingeschlagen werden.
1. Sitzung: Zur ersten Sitzung werden alle Familienmitglieder, die im Haushalt leben und alle weiteren Personen, die großen Einfluss auf das Familienleben zu haben scheinen, eingeladen. Am Ende der Sitzung wird den TeilnehmerInnen mitgeteilt, dass ab der folgenden Sitzung nur mehr mit der Kernfamilie weitergearbeitet werden wird. Diese Sitzung dient dazu, viele Informationen über die Familie zu erhalten und eine klare Grenzziehung zwischen der Kernfamilie und den restlichen Familienmitgliedern zu signalisieren.
2. Sitzung: Die zweite Sitzung dient der Erkundigung,wie die anderen Familienmitglieder auf den Ausschluss aus der Therapie reagiert haben und welche Mitglieder der Kernfamilie darauf hin entspannter oder gespannter reagieren. Am Ende der Sitzung wird den anwesenden Kindern mitgeteilt, dass die Therapie ohne sie alleine mit den Eltern fortgeführt werden wird.
3. Sitzung: Hier werden die Reaktionen der Kinder und die Reaktionen der Eltern auf den Ausschluss der Kinder aus der Therapie besprochen. Am Ende der Sitzung erhalten die Eltern die Verschreibung der Hausaufgabe, die aus vier Punkten besteht:
1.Schweigen: Die Eltern werden beauftragt, zu Hause niemanden über den Inhalt der Therapie zu informieren und allen wichtigen Familienmitgliedern dies auch mitzuteilen.
2.Heimliches Ausgehen: Den Eltern wird aufgegeben in den nächsten Wochen öfters heimlich auszugehen und nur einen Zettel darüber, dass sie nicht da sind, zu hinterlassen.
3.Keine Informationen: Auf Fragen der Kinder, wo die Eltern den gewesen seien, werden die Eltern angewiesen freundlich zu antworten, dass das nur die Eltern etwas angehe.
4.Notizenheft: Die Eltern bekommen weiters den Auftrag, die Reaktionen der Kinder zu beobachten und das Wichtigste in ein Heft, dass sie versteckt halten, zu schreiben.

Kommentar zur Verschreibung
Das Mailänderteam entdeckte mit dieser Verschreibung, dass sie einen guten Informationsfluss über das Verhalten in der Familie in Gang setzt. Indem in den darauf folgenden Sitzungen beobachtet werden kann, wer wie auf die Geheimhaltung, die abendlichen Ausflüge und den Ausschluss der Kinder reagiert, werden sozusagen die Spielregeln der Familie sichtbar. Und so wurde die Verschreibung für das Autorenteam zu einem „Sprungbrett“, die Entstehungswurzeln des psychotischen Spiels einer Familie zu klären.

Verschwommene Generationsgrenzen
Die Verschreibung hilft weiters die verschwommenen Generationsgrenzen in den Blick zu nehmen und neu zu initiieren. Indem ein Kontrakt der Geheimhaltung zwischen dem Ehepaar und der TherapeutIn geschlossen wird (nämlich, dass keine Informationen über die Therapie an andere weitergeben wird und dies auch explizit den wichtigen Familienmitgliedern mitgeteilt wird), wird eine erste klare Grenze gezogen. Die Eltern kommen somit in ein einmaliges Vertrauensverhältnis zur Therapeutin. Eine zweite Grenze wird durch das heimliche Verschwinden und das darauf folgende „Nicht Auskunft geben darüber“ der Eltern gegenüber allen anderen Familienmitgliedern neu eingerichtet. Der Zettel auf dem Tisch und die Antwort: „Das geht nur uns was an“ macht deutlich, dass hier Einmischung von dritten unerwünscht ist. Für das Autorenteam sind diese neue Grenzziehung und die strenge Hierarchie der Grenzziehung u.a. Gründe für die hohe Wirksamkeit dieser Intervention.

Neu initiierte Autonomiebestrebungen
Eine weitere wichtige Wirkung entsteht durch die neu initiierten Autonomiebestrebungen der Eltern. Indem das Paar durch das spontane Weggehen am Abend, Autonomie für sich beansprucht, senden sie automatisch das Signal an ihre Kinder, dass auch sie fähig sind zur Autonomie. So wird den Eltern in der Verschreibung auch aufgetragen, nicht zu fragen, was die Kinder in ihrer Abwesenheit getan haben. Gerade dieses Verhalten sprengt oft den Teufelskreis von Überbeaufsichtigung und Entmündigung zwischen Eltern und Kindern.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Verschreibung für das AutorInnenteam drei wesentliche Funktionen enthält: Die Verschreibung ist erstens Informationsquelle für das konkrete Familienspiel, zweitens dient sie der therapeutischen Wirkung und drittens entwickelte sich die Verschreibung zu einem Forschungsinstrument für das Mailänderteam.

Das Verhalten der Eltern
In der Beobachtung der Eltern, wie sie die Verschreibung durchführen, ergaben sich drei sich unterscheidende Gruppen. Gruppe A sind jene, die die Verschreibung genau befolgen und durchführen. In diesen Familien stellte sich oft nach kürzerer Zeit deutliche Besserungen beim Indexpatienten ein. Gruppe B sind jene Paare, die nur einen Teil der Verschreibung oder nur kurze Zeit die Verschreibung befolgen. In diesen Familien wurde oft schnell sichtbar, dass es andere Gründe gibt, die die Eltern die Verschreibung nicht befolgen ließen, wie die Angst, durch die neue Autonomie das gesunde Kind zu verlieren. Die dritte Gruppe befolgt die Verschreibung gar nicht. Die Paare dieser Gruppe reagieren oft in der nächsten Sitzung „patzig“. Mit diesen Eltern ist es dem TherapeutInnenteam nicht gelungen einen Kontrakt herzustellen.

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